Heritabilität
16.07.2022 19:18

von Astrid Hübner

Es gibt Merkmale, die sind fast ausschließlich von Genen abhängig, Merkmale, die durch Umwelteinflüsse und Gene gleichermaßen beeinflusst werden und es gibt Merkmale, die fast ausschließlich auf Umwelteinflüssen beruhen.
In diesem Kontext haben Genetiker den Begriff „Heritabilität“ definiert.

Zitat
Im Übertragenen Sinn lässt sich Heritabilität als Maß für den genetischen Anteil an der phänotypischen Ausprägung eines Merkmals interpretieren. In jedem Fall ist die in einer Population geschätzte Heritabilität eines Merkmals ein Maß für den aktuell möglichen Selektionserfolg für dieses Merkmal.

Zitat Sommerfeld, S. 208:



Einfach ausgedrückt ist es ein Maß für die Erblichkeit von bestimmten Merkmalen oder Eigenschaften.

Dieser Parameter hat einen Wert zwischen 0 und 1. Wenn der Wert 0 ist, bedeutet dies, dass eine Übertragung völlig zufällig ist und die Fähigkeiten der Eltern keinen Einfluss auf die Nachkommen haben. Je näher sich der Wert richtig 1 nähert, je höher ist die Erblichkeit.

Heritabilitäten werden ungefähr folgendermaßen klassifiziert:

hohe Heritabilität: über 0,45
mittlere Heritabilität: 0,2 bis 0,4
geringe Heritabilität: 0,01 bis 0,15

Man sollte die Heritabilitätswerte seiner Rasse als Züchter einigermaßen einschätzen können. Denn es ist absolut unsinnig auf Dinge zu selektieren, die keine Heritabilität haben. Hüftdysplasie hat eine Heritabilität von 0,2 – 0,4, Epilepsie beim Belgischen Schäferhund 0,76.

Felleigenschaften, Farbe, Kopfform, Extremitätenwinkelung – all das ist hoch heritable. Eine Heritabilitätsschätzung von über 0,5 weist auf das Vorhandensein eines Hauptgens hin (Morton und MacLean 1974).

Als niedrig heritable werden Merkmale der Vitalität, der Krankheitsresistenz und zum Teil auch Wesens-und Verhaltensmerkmale eingestuft.

Die Zucht auf Arbeitsleistung ist deshalb schwierig. Verhalten ist ein genetisch sehr vielfältiger Merkmalskomplex, bei dem der Umwelt aber in fast allen Bereichen eine sehr große Bedeutung zukommt. Meist wird nur eine Anlage vererbt, die dann durch die Umwelt individuell geformt
wird.

Jedes Verhalten hat seinen Ursprung im Gehirn. Die Größe des Gehirnes, die Ausbildung der Gehirnareale, aber auch Details des Neurotransmitterstoffwechsels sind genetisch festgelegt.

Man muss unterscheiden zwischen artspezifischem Verhalten, Rasseverhalten und individuellem Verhalten.

Artspezifischem Verhalten unterlag einer Selektion durch die Umwelt über Jahrtausende, das nützlichste Verhalten hat sich durchgesetzt und ist heute über eine große Homozygotie im Artgenom verankert.

Rassen sind nur mehrere Jahrzehnte alt. Dies hat zur Konsequenz, dass rassetypisches Verhalten meist instabiler vererbt wird als das Artverhalten. Rassespezifisches Verhalten hat natürlich eine erbliche Grundlage, ansonsten wäre es nicht möglich gewesen, die verschiedensten Arbeitshunderassen zu schaffen. Die Rassespezifität ist allerdings so instabil, dass sie nur unter permanentem Selektionsdruck erhalten bleibt. Ursprünglich vorhandenes „typisches“ Verhalten bestimmter Rassen (z.B. Arbeitsveranlagung) geht relativ schnell verloren, wenn sich die Selektionskritieren ändern. Typisches Rasseverhalten gibt es daher nur, wenn entsprechend stringent darauf selektiert wird.

Verhaltensmerkmale werden in der Regel über das Zusammenwirken mehrerer Gene vererbt. Für diese Art des Erbganges findet man die Bezeichnungen polygen rezessive Vererbung, polygen additive Vererbung, ebenso wie multifaktorielle Vererbung.
Da es sich häufig um Merkmale handelt, die fließend von sehr gering bis sehr ausgeprägt vorhanden sein können, spricht man auch von einer „quantitativen Vererbung“.

Es gelten folgende Annahmen:

1.Einige, aber nicht eine unbegrenzte Anzahl von Genorten ist bei der Ausprägung des Merkmales
beteiligt.
2. Es gibt keine einfache Dominanz oder Rezessivität an den einzelnen Genorten.
3. Die Genorte agieren zusammen, indem sich ihre Wirkungen jeweils addieren oder abschwächen.
4. Die Umwelt bestimmt einen Teil der tatsächlichen Ausprägung.

Jean-François Courreau erstellte 2004 eine Studie über die Heritabilität beim Belgischen Schäferhund.
Ziel dieser Studie war es, die Heritabilität (h²) der Arbeitsmerkmale des belgischen Schäferhundes zu bewerten und die Zuchtwerte der Hunde und die Rolle bestimmter Umweltfaktoren zu berechnen. Es wurden 15 772 Wettbewerbsergebnisse von 2427 Ringhunden verwendet.
Es wurden die Sprünge, das Fusslaufen, apportieren, Attacken, Bewachen, Gehorsam und das Beißen ausgewertet.
Die h²-Schätzungen sind niedrig (0,07 für das Fusslaufen) bis moderat (0,13 bis 0,18 für die anderen Kriterien). Die Wiederholbarkeit der Ergebnisse war relativ hoch (0,39-0,59).
Fazit der Studie war, dass es möglich sein sollte, Belgische Schäferhunde zur Zucht nach Verhaltensmerkmalen auszuwählen.



Der Deutsche Malinois Club (DMC) hat 2009 durch den TG Verlag die Heritabilitätswerte der Merkmale erstellen lassen, die zu diesem Zeitpunkt auf Wesensprüfungen und Körungen bewertet wurden.



Das ganze wurde leider nicht weitergeführt, da die Verantwortlichen des Vereins davon ausgegangen sind, dass diese Werte nicht stimmen könnten, da das Griffverhalten als kaum erblich eingestuft wurde. Erfahrungsgemäss vererbt sich der Griff des Hundes. (Zu eruieren, warum diese Berechnung sich nicht mit den Erfahrungen deckt, ist einen eigenen Beitrag wert)

Dr. S. Rüfenacht hat eine Dissertation über das Thema Erblichkeit der Merkmale beim Wesenstest der Deutschen Schäferhunde im Jahr 2002 geschrieben. (Schweiz)

Zitat
In dieser Studie wurden genetische und nicht genetische Auswirkungen auf Verhaltensmerkmale anhand von Aufzeichnungen des Feldverhaltenstests des Schweizerischen Schäferhundzuchtclubs geschätzt. Dieser standardisierte Test wird seit 1949 angewendet und umfasste die folgenden sieben Merkmale: Selbstvertrauen, Nervenstabilität, Temperament, Härte, Schärfe, Verteidigungs- und Kampfantrieb. Die Analysen basierten auf den Testergebnissen von 3497 Deutschen Schäferhunden zwischen 1978 und 2000. Geschlecht, Alter, Richter und Zwinger hatten signifikante Auswirkungen auf alle Verhaltensmerkmale. Die Heritabilitäten wurden unter Verwendung von drei verschiedenen Methoden berechnet und lagen zwischen 0,09 und 0,24, wobei ein Standardfehler zwischen 0,04 und 0,06 variierte. Die phänotypischen Korrelationen zwischen den Merkmalen lagen zwischen 0,28 und 0,94, die genetischen Korrelationen zwischen 0,34 und 1,0. Es wurden keine signifikanten Korrelationen zwischen den Scores der Hüftdysplasie und den Verhaltensmerkmalen gefunden (–0,04 bis 0,01). Die bescheidene genetische Verbesserung der Zuchtbuchpopulation des Deutschen Schäferhundes (GSD) in den letzten 25 Jahren war auf die geringe Heritabilität der Verhaltensmerkmale zurückzuführen, vor allem aber auf die geringen Selektionsintensitäten nach dem Test (nur 8% scheiterten). Es wurden einige Empfehlungen zur Verbesserung der Test- und Auswahlreaktion abgegeben.



Beispiele für Erblichkeitsgradschätzung von verschiedenen Autoren zu diversen Rassen:

Nervosität: 0,58-0,62
Ängstlichkeit: 0,46
Temperament: 0,51
Freundlichkeit: 0,37
Fähigkeit zur Mitarbeit: 0,35
Nervenfestigkeit: 0,25
Schärfe: 0,13

Korrelationen gab es zwischen Bereitschaft zur Mitarbeit und Konzentrationsfähigkeit, sowie zwischen Nervosität und Misstrauen.





Der Unterschied der Heritabilität für den Beutetrieb in der Studie von 1997 ist erhelblich bei den beiden Rassen.

Schlussendlich ist entscheidend, welche Art der Vererbung bei welchem Merkmal zutrifft. Es gibt ganz wenige Eigenschaften, bei denen wir vom Sichtbaren unmittelbar auf das Genetische Rückschlüsse ziehen können.
Bei komplexen polygenen Merkmalen ist die Zahl der mitwirkenden Gene und deren Kopplung meist völlig unbekannt und es ist nie abzusehen, was sich bei der Selektion auf nur ein Merkmal noch mit verändert.

Ausserdem unterliegt die Erfassung und Beurteilung qualitativer Merkmale einer subjektiven Bewertung und damit einer Fehlerquelle. Daten die für eine Heritabilitäts-Schätzung verwendet werden, dürfen nicht von Umwelteinflüssen verfälscht sein, Prüfer müssen qualifiziert sein, es muss standardisierte Prüfungsbedingungen geben und Prüfverfahren müssen eine hohe Wiederholbarkeit und Gültigkeit haben. Die Heritabilitätsschätzung ist rechnerisch sehr aufwendig, daher gibt es heute verfügbare Statistikprogramme die in ausgestatteten Instituten durchgeführt werden können. Statistische Grundlage der Schätzung ist die Ähnlichkeit verwandter Tiere. Je höher die Ähnlichkeit eines bestimmten Merkmals ist, desto größer ist die Heritabilität dieses Merkmals. Am häufigsten wird hier die Ähnlichkeit zwischen Eltern und ihren Nachkommen oder die Ähnlichkeit väterlicher Halbgeschwister verglichen. Daher können Heritabilitätswerte immer nur für eine Population und eine Generation gelten, für die sie geschätzt wurde. Da es in der Praxis nicht möglich ist, für jede Population und jede Generation Heritabilität immer wieder neu zu berechnen, greifen die meisten Zuchtstrategien auf bereits publizierte Heritabilitätswerte aus anderen Populationen zurück. Aus eben genannten Gründen ist die Gültigkeit für die eigene aktuelle Zuchtpopulation dann aber eher fraglich.






Quellen:
tierarztpraxis-hebeler.de (abgerufen Jan. 2021)
lCourreau J.-F., Langlois B., Genetic parameters and environmental effects which characterise the defence ability of the Belgian shepherd dog, Applied Animal Behaviour Science 91, 2005, p 233-245
sites.google.com/site/calvaireauxacacias/ (abgerufen Jan. 2021)
theses.fr/2004PA112250 (abgerufen Jan. 2021)
A behaviour test on German Shepherd dogs: heritability of seven different traits, Dr. S. Rüfenacht
https://www.bvws.info/wp-content/uploads...eminar_2-09.pdf (abgerufen Jan. 2021)
Sommerfeld-Stur, Rassehundezucht, 2016
Bernd Tellhelm, Ottmar Distl, Antje Wigger: Hüftgelenksdysplasie (HD) – Entstehung, Erkennung, Bekämpfung. In: Kleintierpraxis. Band 53, Nr. 4, 2008, S. 246–260.
https://academic.oup.com/jhered/article/94/1/57/2187411 (abgerufen Jan. 2021)

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